Projektziele
Editionsphilologie bedeutet letztlich Differenzierung kleiner und kleinster Textbausteine, um am Ende zu einer ‚richtigen‘ (‚besseren‘, ‚endgültigen‘) Textfassung als möglichst definitive Grundlage für darauf aufbauende hermeneutische Verfahren zu gelangen. Die Differenzierungen können dabei unterschiedlicher Art sein, jeweils gewonnen durch sorgfältigsten Vergleich von Textfassungen. Zu nennen wären zum Beispiel die Differenzierung von Drucken (und entsprechende Eliminierung von ungewollten Druckfehlern) und die Differenzierung von Fassungen (vom Autor vorgenommene oder autorisierte, gegebenenfalls auch unautorisierte, zum Beispiel durch Erben eingeführte Varianten eines Textes, etwa Veränderungen zwischen Auflagen oder im Rahmen einer Gesamtausgabe der Werke; in historischer Hinsicht ggf. Rückkehr zu Originaltexten nach zeitbedingten Veränderungen, wie zum Beispiel modernisierte Rechtschreibung). Entsprechend unterscheidet die Philologie auch unterschiedliche ‚Qualitätsstufen‘, genau genommen Rigiditätsstufen des Textes, von simplen Leseausgaben über Normalausgaben zu kritischen und im Extremfall historisch-kritischen Ausgaben, die dann in ihrer Textkonstitution alle Varianten aller relevanten Ausgaben verzeichnen.
Im Bereich noch relativ wenig komplexer, meist auf Editionen von Texten des 19. und 20. Jahrhunderts bezogener editionsphilologischer Arbeiten konnten in den vergangenen zehn Jahren Fortschritte in der Zusammenarbeit mit elektronischen Texteditionsverfahren erreicht werden. Zu nennen wären hier an erster Stelle die TextGrid Initiative , im Rahmen derer Werkzeuge zur Unterstützung des Zugangs und des Austausches von Informationen in den Geistes- und Kulturwissenschaften geschaffen worden sind, und TUSTEP , das Tübinger System von Textverarbeitungs-Programmen.
Das hier beantragte Projekt bezieht sich, weit über den bisherigen Stand der IT-unterstützten Editionsphilologie hinausgehend, auf bisher völlig unbearbeitete und hochkomplexe Textdifferenzierungsverfahren, wie sie in der Textkritik sehr summarisch und oberflächlich unter dem Terminus ‚genetische Editionsverfahren‘ zusammengefasst und bisher so gut wie gar nicht elektronisch unterstützt werden.
Dabei handelt es sich vor allem um drei unterschiedliche Erscheinungen:
- Die Edition mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Texte, bei denen (vor Erfindung des Druckes) unterschiedliche handschriftliche Varianten vorliegen, die zwar alle aufeinander beruhen, deren Filiation aber völlig unbekannt ist und erst textkritisch erstellt werden muss (z.B. Abhängigkeit von Abschriften, typische regionale Varianten‚ Ursprungstext);
- Die Edition von Texten, bei denen nicht kleinere Varianten zwischen den Auflagen vorliegen, sondern komplexe Umarbeitungen, die dazu führen, dass Texte in verschiedenen Fassungen ein jeweils ‚eigenes Recht‘ aufweisen, in editionsphilologischer Perspektive aber zu Fassungen führen, die (womöglich über Jahrzehnte gespreizt) ihr eigenes Leben entfalten, zu jeweils zeittypischer Rezeption führen und insgesamt praktisch (durch Erweiterungen, Streichungen, komplette Umarbeitungen) zu hochdifferenzierten Textfassungen führen;
- Texte, an denen bekanntermaßen mehrere unterschiedliche Autoren mitgearbeitet haben, wobei deren Textanteil unbekannt (und entsprechend textphilologisch seit jeher umstritten) ist; etwa bei Textprojekten, bei denen aus ideologischen oder einem spezifischen Zeitdruck geschuldeten Grund mehrere Autoren einen (umfangreicheren, nicht auf Einzelstellen beruhenden) Textanteil übernommen haben und die Editionsphilologie traditionellerweise Einzel-Anteile von Autoren (etwa mit stilkritischen Verfahren) zu identifizieren sucht.
Das Projekt versucht, die beiden erstgenannten Fragestellungen, die bisherige IT-gestützte Editionsfragestellungen weit überschreiten, anhand von Textcorpora wie folgt exemplarisch zu verfolgen:
- Wundarznei von Heinrich von Pfalzpaint aus dem 15. Jahrhundert: Anhand eines Textcorpus frühneuzeitlicher deutschsprachiger Texte, bei denen die Schreiber der Überlieferungen unbekannt sind und die Abhängigkeit der Manuskriptfassungen (Reihenfolge der Abschriften) untereinander erst noch festgestellt werden muss;
- Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux indes (Amsterdam 1770, Den Haag 1774, Genf 1780) von Guillaume Thomas François Raynal: Anhand eines Textcorpus nicht-deutschsprachiger (französischer) Texte des 18. Jahrhunderts, bei denen zwar der Hauptautor bekannt ist, die drei verschiedenen Fassungen sich aber über die Jahre ihres Entstehungszeitraumes und ihrer spektakulären gesamteuropäischen Rezeption substanziell unterscheiden (‚genetisch‘, d.h. in der Entstehung zentral differierende Textstufen über insgesamt drei substantiell unterschiedliche Fassungen).
Die bewusste Entscheidung der Antragsteller, dem Projekt neben einem Textcorpus der deutschen Sprache ein fremdsprachiges Textcorpus zu Grunde zu legen, soll gewährleisten, dass die geplanten generischen IT-Methoden und Werkzeuge die Besonderheiten unterschiedlicher Sprachen berücksichtigen.